Ungelenkt steigt Freddy von seinem Hexenbesen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es in dieser Realität keinen auf ihn zugelassenen Ford Focus ST gibt und er hier lieber E-Bike fährt, hatte er beschlossen, für den Weg nach Wolfsau lieber den Besen zu nehmen. Die ersten Kilometer waren wackelig, aber Besen fliegen ist wie Fahrrad fahren: Das verlernt man nicht. Trotzdem war der Flug durch das Herbstwetter eher ungemütlich. Grade, als Freddy vor dem Haus des Hexenzirkels vom Besen steigt, zucken die ersten Blitze vom Himmel.

Freddy schaut sich das Haus genau an. Es sieht exakt so aus wie das Gegenstück in “seiner” Realität: Heruntergekommen, uneinladend, undicht. Aber er weiß: Dieser Eindruck täuscht. Soll täuschen. Er öffnet die Eingangstür und tritt in den Flur.

Freddy hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass diese Realität in kleinen Details anders ist, als die seine, doch der Flur, der ihn erwartet, erschrickt ihn etwas. Seit der Machtübernahme von Selena ist das Hexenhaus in “seiner” Realität ein düsterer Ort, doch vor dem Tod seiner Mutter, als sie noch den Zirkel geleitet hat, war es hell und fröhlich, eher in rosa und Pastellfarben gehalten. So wie hier…

Freddy tritt auf den rosafarbenen Läufer, der im Flur liegt.

Sollte das bedeuten… kann das sein…? Lebt Mama hier noch?? Doch auf den zweiten Blick wird ihm klar: Es kann nicht sein. Es sieht eher so aus, als wäre das Haus seit Mamas Tod unbewohnt. Eine dicke Staubschicht liegt über allem, Schimmel und Moos zieren die einstmals eierschalenfarbenen Wände und es tropft durch die Decke. Hier lebt niemand mehr. Freddy schaut kurz in das Zimmer rechts neben dem Eingang - als Kind hatte er gerne hier gespielt - und scheucht zwei Ratten auf, was Gismo, der auf seiner Schulter sitzt, mit einem Fauchen quittiert.

Schnell schließt Freddy die Tür wieder und folgt den Flur bis zum Ende. Er öffnet die Tür zum Saal, in dem der Hexenzirkel tagt. Die Tafelrunde, die in der Mitte des Raumes steht, ist noch mit einer einstmals pinken Tischdecke abgedeckt und auch sonst sieht der Raum noch so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. So, als wäre er fluchtartig verlassen und dann der Zeit überlassen worden. Doch um so genauer Freddy hinsieht, um so mehr unpassende Details fallen ihm ins Auge. Ein kleines Brandloch in der Tischdecke. Eine verkohle Stelle an der hinteren Wand. Große, spitze Dornen, die sich rechts in die Tapete gebohrt haben. Merkwürdige Löcher in der linken Wand.

Hier stimmt etwas nicht.

Freddy setzt sich auf den Stuhl, auf dem früher seine Mama gesessen hatte und lehnt sich zurück. Gismo springt ihm sofort von der Schulter und schleicht davon, auf der Suche nach den Ratten. Kaum sitzt er auf dem Stuhl, spürt Freddy die Mächte, die diesen Raum einst mit Magie erfüllt haben. Seine Fingerspitzen kribbeln, seine Haarspitzen richten sich auf, seine Augen beginnen zu jucken. Hier ist etwas passiert. Freddy kennt sich mit Magie bei weitem nicht gut genug aus, um begreifen zu können was hier passiert ist, aber…

Freddy dreht sich um. Das große Bücherregal mit den Zauberbüchern steht unangetastet hinter ihm. Etwa vier Stunden, eine Pizzabestellung - der Pizzabote hatte ihm ängstlich die Pizza hingehalten und war dann weggerannt - und eine verspeiste Ratte später liegen vier aufgeschlagene Zauberbücher vor Freddy auf dem Tisch. Im “Grimoaire Fatale” hatte er endlich gefunden, was er sucht: Rikimarus Aufdeckung ist die Seite, die er grade aufgeschlagen hat, überschrieben. Freddy spricht die Zauberformel sorgfältig und macht sorgfältig die Handbewegungen nach - Zaubern ohne Zauberstab benötigt vor allem exakte Gesten.

Kaum ist der Zauber gesprochen, taucht an der Wand, in der die Dornen eingeschlagen sind, lila leuchtende Runen auf, die mit einem Zauber dort verborgen waren. Freddy seufzt genervt. Doch grade als er aufstehen möchte, um ein weiteres Buch zur Übersetzung zu suchen, verändern sich die Symbole vor seinen Augen und werden zu lesbaren Wörtern.

Freddy!
Oh mein lieber, süßer Freddy. Die schwarzen Haare stehen dir gut. Viel besser als die pinken, die du in Lemmy (so heißt dieses Universum) trägst.
Dein Erscheinen wurde prophezeit. Vor langer, langer Zeit. Reddit (so heißt dein Universum) zerbricht. Du wirst Reddit und Lemmy zusammenführen. Das ist deine Bestimmung.
Selena und ich werden gegeinander kämpfen. Wir waren uns uneinig, welches Universum das richtige ist. Ich sage: Reddit. Selena sagt: Lemmy. Die Prophezeiung sagt es uns nicht.
Vielleicht werden dies meine letzten Worte. Selena ist mächtig und von einer Boshaftigkeit und Hinterlistigkeit ergriffen, gegen die ich nur schwer ankomme.
Freddy. Höre auf dein Herz. Du wirst am besten wissen, welches Universum funktionieren kann, und welches nicht. Selena und ich sind nur Beobachter am Spielfeldrand, wir wissen nichts. Höre auf deine Freunde, höre auf dich selbst. Und deine Katze frisst grade deine Pizza.

Freddy dreht sich um und beobachtet, wie Gismo sein letztes Stück Pizza anknabbert.

Ich werde dich für immer lieben.
Deine Henni.

Freddy blickt noch etwas auf die Worte an der Wand, die langsam verschwinden, als Rikimarus Aufdeckung nachlässt. Vermutlich hat der Streit zwischen Mama und Selena den Hexenzirkel zerschlagen. Das erklärt, warum die Zauberei so unkontrolliert durchs Kleebachtal fliest. Warum Ella und Vanja fliegen können, warum Luis sein Alter ändern kann, warum Niko manchmal aussieht wie Marianne. Dann pfeift Freddy, woraufhin Gismo wieder auf seine Schulter hüpft. Gemeinsam verlassen sie das alte Haus und steigen auf den Hexenbesen.